Förderungsziel: «… entscheidet sich zwischen zwei Arbeiten»

Förderungsziel

Manchmal ist Annemarie ganz herzlich. Oder schlägt ohne Vorwarnung zu. Manchmal weint Pierre ohne ersichtlichen Grund. Und wenn Hans hässig ist, spuckt er. Ein ganz gewöhnlicher Tag im Schwerstbehindertenheim Roth-Haus in Muri.

«Er kann eifersüchtig reagieren», sagt Maggi Balatti, Leiterin der Wohngruppe 3. Dann kann es sein, dass Hans, 48-jährig, spuckt. Ins Gesicht. Wenn er aber gut drauf ist, bläst er nur. In der Wohngruppe lebt er wie in einer Familie mit sieben weiteren Schwerstbehinderten zusammen, betreut von Personen, die seine wichtigsten Bezugspersonen sind. «Wir sind tatsächlich nahe beieinander», bestätigt Balatti. «Die Behinderten orientieren sich ganz stark nach uns.» Aber es gibt einen Unterschied zu einer normalen Familie: «Die Behinderten sind nicht unsere Kinder, wir müssen eine klar definierte Distanz wahren, sonst machen wir unsere Arbeit nicht richtig und nicht professionell.» Ein Schrei gellt durch den Raum, der aber niemanden irritiert.

Jeder dieser Schwerstbehinderten hat ein Förderungsziel, das rollend überprüft wird. Dieses wird auch in den Beschäftigungsateliers verfolgt. «Es sind einfache, aber für die Behinderten mögliche Dinge», erklärt Elisabeth Aebi, diplomierte Behindertenbetreuerin. «Für unsere Bewohnerinnen und Bewohner ist der Besuch der Beschäftigungsateliers etwa so, wie wenn wir zur Arbeit gehen.» Entsprechend ist es auch positiv, dass die Leute das Roth-Haus konkret verlassen müssen, um an ihre Arbeit zu gelangen.

Renate ist ganz ruhig an diesem Tag. Sie schreit kaum und sitzt im Rollstuhl. Die 58-jährige Frau kann weder reden noch arbeiten. «Ich erreiche sie am ehesten über Berührungen», erklärt Elisabeth Aebi. Sie badet die Hände von Renate in einer Schüssel mit duftendem Wasser, massiert ihre Haut und die Finger. Die Roth-Haus-Bewohner stehen intellektuell etwa auf der Stufe von Ein- bis Vierjährigen, haben meistens starke körperliche Behinderungen und sind unberechenbar. Die Präsenz der Betreuer und Betreuerinnen auch in den Ateliers ist enorm. «Wir müssen stets alles im Auge behalten, die Stimmung kann innert Minuten kippen.» Sind Betreuende schlecht drauf, färbt das sofort auf die Behinderten ab. «Dann wird es echt schwierig.»

«Man ist immer versucht, irgendeine Kleinigkeit schnell selber zu machen», ertappt sich hin und wieder Betreuer Hans-Peter Meyer. Dabei ist es das erklärte Ziel, alles, wirklich alles, was möglich ist, durch die Behinderten ausführen zu lassen. Das braucht eine riesige Geduld. «Aber wenn die kleinste Fähigkeit nicht genutzt wird, verschwindet sie innert kürzester Zeit.» Ziel der Beschäftigungsgruppe ist es, diese vorhandenen Fähigkeiten zu fördern und neue zu entdecken.

Martin wäscht das Znüni-Geschirr ab, sein Job, jeden Tag. Alle in den zwei Beschäftigungsateliers sind in Etappen aufs WC geführt worden; viele merken nicht, wenn sie müssen. Rita ist vom Backen zurück und füllt in einem Klatschheftli mit groben Strichen Kreuzworträtsel aus. Hin und wieder schlägt sie auf das Magazin. «Es ist ruhig heute Vormittag», stellt Elisabeth Aebi fest. Es kann auch anders sein. Manchmal rastet einer aus und wird aggressiv. Oder ganz traurig. «Kürzlich hat Pierre herzzerreissend zu weinen begonnen. Wir wissen nicht, weshalb. Wir sehen nicht in die Köpfe unserer Leute.» Dann gibt es «Eins-zu-eins-Betreuung», wie das heisst. Doch das geht nur, wenn die anderen einigermassen beschäftigt sind. «Sonst können wir aber Hilfe holen.» Das gilt im Roth-Haus generell, wenn eine Betreuerin oder ein Betreuer an seine Grenzen kommt.

Zurück in die Wohnguppe

Der Weg zurück in die Wohngruppe ist genauso umständlich wie derjenige in die Beschäftigungsateliers. Zusammen mit den Betreuten wechseln auch so genannte Beobachtungsblätter von der Beschäftigung in die Wohngruppe. Diese Blätter werden rund um die Uhr von den Betreuerinnen und Betreuern geführt. «Wir wissen dann, ob jemand in der Wohngruppe aggressiv war oder traurig, Schmerzen hatte oder fit ist», erklärt Elisabeth Aebi. Und umgekehrt. Heute gibt es aus den Beschäftigungsateliers nichts Besonderes zu vermerken. In der Wohngruppe wartet das Mittagessen.

«Das Essen ist für unsere Bewohnerinnen und Bewohner das Wichtigste, der Höhepunkt des Tages», stellt Maggi Balatti fest. «Sie würden immer essen.» Aber dann würden sie zu dick. Deshalb wird auf eine auch in der Menge ausgewogene Kost geschaut. Wenn jemand aggressiv wird, richtet er seine Wut gegen Betreuende. «Das kann schon einmal blaue Flecken geben.» Sonst ist es wie in einer Familie. An die Pinnwand sind allerdings statt Stundenplänen spezielle Informationen geheftet. Auch im Wohnbereich wird darauf geachtet, dass alle möglichst viel selber machen können – bei totaler Präsenz der Betreuerinnen.

Und wieder am Arbeitsplatz

Wieder zurück in den Beschäftigungsateliers. Eliane Nogara hat, wie Elisabeth Aebi und Hans-Peter Meyer, die Arbeitsplätze vorbereitet. Es werden Hölzchen gespalten, K-Lumets hergestellt und Karten gemalt. Wenn es nach Plan verläuft. «Mit Druck geht gar nichts», stellt Meyer fest. Zuerst aber geht Eliane Nogara mit Hans und Blanca spazieren. «Wenn wir mit Behinderten in der Öffentlichkeit sind, reagieren die Leute in der Regel gut», stellt sie fest. Stress kann es geben, wenn einer im Coop beim Einkaufen «ausrastet». Dann heisst es, Ruhe bewahren und Ruhe vermitteln. An jedem Platz angebracht sind die Förderungsziele: «… kann Tischsets und Znüni tischen» oder «… entscheidet sich zwischen zwei Arbeiten».

Die ständige Nähe führt zu einer echten, spürbaren gegenseitigen Zuneigung. Für Eliane Nogara, gelernte Floristin, ist die Betreuung von Schwerstbehinderten «ein Traumjob», weil da so viel zurückkommt. Elisabeth Aebi machen «die kleinen Momente glücklich, wo man feststellt, jemand ist wieder weitergekommen», und Hans-Peter Meyer bereitet es Freude, «auszuprobieren, was möglich ist und so ganz kleine Erfolgserlebnisse zu vermitteln».

Feierabend

Bald ist Feierabend. Die Leute in den Beschäftigungsateliers sind müde. Wer kann, kleidet sich zumindest teilweise selber an. Wer kann, geht selbstständig zum Ausgang und wird dort von den Betreuerinnen und Betreuern der Wohngruppe empfangen. Die anderen werden hinunterbegleitet. Es läuft alles eine Spur langsamer ab als am Vormittag. Die Betreuerinnen und Betreuer stossen Rollstühle zum Lift und haben wieder auf alle und alles ein wachsames Auge.

Essen, duschen, fernsehen – was man halt so macht nach Feierabend. Das ist auch im Roth-Haus nicht anders. Die Betreuerinnen der Wohngruppe werden das Essen servieren, einzelnen eingeben, Windeln wechseln, wieder Daniel besonders auf die Finger schauen, die Beobachtungsblätter lesen und in einer ruhigeren Minute nachführen. «Es war ein ruhiger Tag heute», freut sich Maggi Balatti. Es ist nichts Aussergewöhnliches passiert. Nach dem Abendessen läuft der Fernseher. «Aber das wird eher als beruhigende Geräuschkulisse genutzt», erklärt Balatti.

Um 21 Uhr beginnt die Nachtwache mit ihrer Arbeit. Dann schlafen praktisch alle Bewohnerinnen und Bewohner. Vielleicht kann auch die Nachtwache morgens um sieben Uhr ins Beobachtungsblatt schreiben: «Nichts Besonderes, alles ruhig». Wenn sie Glück hat.

Hans spuckt heute nicht. Er freut sich auf die Arbeit, die ihn im Beschäftigungsatelier in der Pflegi erwartet. Er kann nicht reden, aber nach dem Ankleiden des Mantels klatscht er in die Hände. Diejenigen, die gut zu Fuss sind, marschieren begleitet an ihren Arbeitsplatz, die andern werden mit dem Bus hingefahren. Es dauert, bis alle angekleidet sind. Hans bläst einer Betreuerin fröhlich ins Gesicht.

Betreuerin Eliane Nogara unterstützt Hans Hasler beim Malen. Aus seiner Arbeit entstehen verblüffend schöne Karten, die verkauft werden. Eddy Schambron

Das Bügeleisen kracht auf das Handtuch. Rita lacht. Und schreit ohrenbetäubend. Bügelt weiter, faltet das Tuch zusammen. Schlägt das Bügeleisen erneut auf ein Tuch. Bügelt. Und vertieft sich dann in ein Klatschmagazin, ihre Lieblingsbeschäftigung. Nicht einmal nach nebenan will sie gehen, um Muffins zu backen.

Pierre spaltet kleine Holzstücke, die später zu einem K-Lumet, einem Anzündprodukt für das Cheminéefeuer, zusammengesetzt werden. Er ist blind. Aber beim Znüni kann er den Tee selber einschenken. Als er vor der Arbeit die Schuheauszog, hat er ausgiebig an ihnen geschnuppert. Sie sind eben neu. Und jetzt, beim Abräumen des Geschirrs, macht er einen kleinen Umweg, um einen goldenen Engel zu berühren. Er lächelt selig, wenn seine Hand über den Engel aus Kunststoff gleitet.

Rita entschliesst sich doch noch, Muffins zu backen. Sie raffelt einen Apfel. Hans-Peter Meyer hält mit beiden Händen die Raffel auf der Schüssel fest. Der Versuch von Rita, ein Ei aufzuklopfen und in die Schüssel zu geben, geht buchstäblich daneben. Meyer lacht: «Dann nehmen wir eben ein neues.»

Renate schreit. Pierre riecht wieder an seinen Schuhen, Rita schlägt auf den Tisch und rülpst: Es ist Zeit, Mittag zu machen. Martin sagt stolz: «Ich habe heute Nachmittag frei.» Er wird in seinem Zimmer putzen und abstauben.

Jede und jeder hat seinen Platz beim Mittagessen. Einzelnen muss beim Essen geholfen werden, bis hin zum Eingeben. «Keine Krüge neben den Kühlschrank stellen. Daniel schnappt alles», steht auf einer Tafel in der Wohnungsküche. Daniel packt manchmal alle Gefässe mit Inhalt, leert sie aus oder schleudert sie quer durch die Wohnung. Die Betreuerinnen haben ein Auge auf alle, auf Daniel besonders, der beobachtend durch den Raum schlurft.

Hans spuckt immer noch nicht. Aber er schlägt sich jetzt mit der Hand immer wieder an den Kopf. Hans sammelt auch alle Deckel, um damit zu spielen. Konfitürengläser müssen weggeräumt werden, weil er die Deckel nimmt. Und das WC verstopft, weil er sie nach dem Spielen da hinein wirft. Daniel schnappt Maggi Ballatis Kaffeetasse, aber sie ist leer. Wenn Annemarie auf einen zukommt, umarmt sie einen herzlich. Oder schlägt zu. Im Voraus ist nicht ersichtlich, was sie wählen wird.

Pedro ist mit Schaumstoff gut gepolstert und trägt einen Helm, weil er oft epileptische Anfälle hat und hinfällt. Anstatt zu arbeiten träumt er vor sich hin. Alice kann nicht ruhig sitzen oder stehen, ist demzufolge ständig in Bewegung und tanzt. Stefan gibt seltsame Geräusche von sich, knirscht mit den Zähnen und beginnt zu singen. Er scheint weit, weit weg zu sein. Hans will zuerst nicht malen, beginnt dann aber doch, weint plötzlich ohne Tränen und schlägt sich.

Wenn Pierre im Gang auf einen bestimmten Mitbewohner trifft, bekommt er Angst. Und Alice isst die Zigarettenstummel im Aschenbecher beim Ausgang, wenn niemand aufpasst. Pierre will nicht aufstehen und spielt mit einem Ballon. Pedro gähnt und aus Stefans Mund dringen urtümliche Laute.

Schwerstbehindertenheim Roth-haus Das Roth-Haus ist ein Wohnheim mit Beschäftigungsstätte für 28 Menschen mit einer mittleren bis schweren geistigen und körperlichen Behinderung. In vier Wohngruppen werden die Bewohner in ihrem Alltag von Fachpersonen begleitet, gepflegt und gefördert. In ebenfalls vier von Fachpersonen geleiteten Beschäftigungsateliers werden für die Bewohner Arbeitsplätze angeboten.