Erst mit dem Kauf hörte das Kribbeln auf

Erst mit dem Kauf hörte das Kribbeln auf

Sie kaufte haufenweise Sachen, die sie gar nicht brauchte. Sie log und gab eine falsche Identität an, um an Geld heranzukommen. Sie fühlte sich als Versagerin, dachte an Selbstmord – bis sie sich einer Therapie unterzog. Erlebnisse einer Kaufsüchtigen.

Zuerst hat sie sich ab und zu etwas gekauft, das sie nicht unbedingt benötigte: einen schönen Pullover, ein paar extravagante Schuhe, manchmal auch ein Schmuckstück, einen Ring oder eine Halskette. Die Kaufsucht von A.M.* hat schleichend begonnen: Sie wollte sich einfach etwas gönnen, schliesslich trug sie mit der Arbeit im Haushalt und den drei Kindern viel zur Ehe bei. Mit der Zeit ist sie in eine Art «Fieber» gekommen, konnte die nächste Shopping-Tour kaum erwarten. «Es kribbelte im ganzen Körper», beschreibt die 44-Jährige aus der Region Solothurn ihren Zustand. Dann fuhr sie in die Stadt und kaufte sich das Erstbeste, was sie sah – das Kribbeln liess nach. Wieder zu Hause stellte sie oft fest, dass sie genau diese Gesichtscreme bereits in dreifacher Ausführung und noch in der ungeöffneten Originalverpackung hatte.

Mit der Zeit reichte das Geld nicht mehr aus, das ihr Mann ihr monatlich für den persönlichen Gebrauch zur Verfügung stellte. Sie bezahlte jeweils mit Bank- oder Postcard, überzog irgendeinmal die gemeinsamen Konten. Die Mahnungen ignorierte oder vernichtete sie. «Ich schämte mich meinem Mann und meinen Kindern gegenüber und hoffte, dass alles wieder in Ordnung kommt», sagt A.M. Lange Zeit konnte sie die Kontenauszüge heimlich wegschaffen. Als ihr Mann dahinter kam, dass sie das «Ferienkonto» geplündert und überzogen hatte, sagte sie ihm, dass sie ihrer Schwester finanziell ausgeholfen habe.

Die Befriedigung war von kurzer Dauer

Die Kaufsucht trieb A.M. schliesslich dazu, einen Kredit aufzunehmen. Damals fälschte sie erstmals ihre Identität. «Zunächst war es wunderbar, wieder Geld zu haben und es ausgeben zu können, ohne dass jemand davon wusste.» Doch auch dieses Geld war schnell einmal aufgebraucht. «Das Kaufen war ein Kick, eine Art Rausch, das mir aber nur eine kurzfristige Befriedigung gab». Das noch grössere Übel sei der dauernde Stress gewesen, das Ganze zu verheimlichen, der ständige Gedanke an den nächsten Einkauf, das schlechte Gewissen, der zunehmende Rückzug aus dem Freundeskreis und nicht zuletzt die vielen Schulden. «Ich fühlte mich als Versagerin, dachte manchmal sogar an Selbstmord», erinnert sich A.M.

Bank- und Postcards gesperrt

Schliesslich kam ihr Mann doch dahinter. Er handelte sofort, meldete seine Frau bei Edith Balsiger an. Schon beim ersten Gespräch in ihrer Praxis in Biberist erkannte die Paar- und Familientherapeutin das Problem. «Als ich ihrem Verhalten einen Namen gab, <Kaufsucht>, schien A.M. zunächst erleichtert.» In die Therapie bezog Balsiger auch den Ehemann mit ein. Alle Bank- und Postcards wurden gesperrt, A.M. wurden die Vollmachten für die Konten entzogen. Zudem drohte man ihr mit einer Vormundschaft, falls sie sich irgendwie Geld beschaffte oder bei einem Versandhaus etwas bestellte.

Das Ehepaar traf, zusammen mit der Therapeutin, ein Abkommen: Ab sofort erhielt A.M. von ihrem Mann zweimal pro Woche einen bestimmten Betrag, der für Lebensmitteleinkäufe bestimmt war. Sie durfte zudem nur noch in einem kleinen Coop mit minimalem Angebot in der Nähe ihres Wohnhauses einkaufen – und musste danach die Einkaufszettel vorweisen. «A.M.s Mann hatte Mühe, seine Frau derart zu kontrollieren. Sie hatte ihrerseits Mühe, kontrolliert zu werden. Doch beide sahen ein, dass es keine andere Möglichkeit gab, die Kaufsucht zu überwinden», erklärt Edith Balsiger.

Reaktion auf die innere Leere

Neben den Paargesprächen arbeitete Balsiger mit A.M. intensiv allein: «Sie musste für sich die Ursachen herausfinden, weshalb sie diese unnötigen Käufe tätigte. Erst im Verlauf der Therapie erkannte die Kaufsüchtige, dass sie innerlich <leer> war: Sie liebte ihren Mann und ihre Kinder, doch ihre Rolle als Mutter und Hausfrau füllte sie nicht aus; vor der Ehe hatte sie einen verantwortungsvollen Beruf, den sie jetzt vermisste. Sie fühlte sich allein, unzufrieden, oft traurig. Die Einkäufe bewirkten, dass es ihr einen kurzen Moment besser ging. Die Schuldgefühle und die neuen Einkäufe führten in einen Teufelskreis, der in beträchtlicher Überschuldung endete», so Balsiger.

A.M. – sie hat ihr Problem heute im Griff – ist kein Einzelfall: Vor allem Frauen und Jugendliche sind von der Kaufsucht betroffen (siehe Artikel links: «Ein unwiderstehlicher Kaufdrang»). Typisch sei auch, dass sie eher von betroffenen Angehörigen kontaktiert werde als von den Kaufsüchtigen selbst, erklärt Edith Balsiger. «Dass sich die Sucht-Betroffenen nicht öfters melden, hat wohl mit der damit verbundenen Scham zu tun. Sie wollen nicht, dass jemand davon weiss.»

* Initialen geändert

Kaufen, egal was Kaufsüchtige verlieren beim Shopping häufig die Selbstkontrolle.

Ein unwiderstehlicher Drang zum KaufenDefinition Kaufsucht kann zu Entzugserscheinungen bis hin zu Suizid führen

In der Schweiz gibt es immer mehr Kaufsüchtige. Neueste Studien belegen zudem, dass Frauen und Jugendliche besonders gefährdet sind: Ein Viertel der 16- bis 25-Jährigen lebt über seine Verhältnisse und macht hohe Schulden. Die Schweizer Schuldenberatungsstellen haben deshalb kürzlich die Präventionskampagne max.money gestartet.

«Kaufsucht ist ein unwiderstehlicher Drang, etwas zu kaufen. Die Selbstkontrolle geht dabei verloren», definiert die Biberister Paar- und Familientherapeutin Edith Balsiger den Begriff. «Ich würde dabei nicht von Krankheit sprechen, da keine Abhängigkeit von einer Substanz besteht.» Bei Kaufsucht könne es aber durchaus auch zu Entzugserscheinungen kommen wie innerer Unruhe, Nervosität, Anspannung, bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen oder gar zum Suizid. «Die Sucht entsteht schleichend», so Balsiger. Als Prävention sei es wichtig, gerade mit jungen Menschen über ihr Konsumverhalten zu sprechen und die Öffentlichkeit über das Thema Kaufsucht zu informieren.